Cleeves, Ann - Shetland-Quartett 02 - Der laengste Tag.pdf

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Ann Cleeves
Der längste Tag
Kriminalroman
Deutsch von Tanja Handels
Für Ingrid Eunson,
mit Dank für die schöne Zeit in Gunglesund
PROLOG
Die Passagiere strömten vom Kreuzfahrtschiff an Land. Sie
trugen leichte Jacken und Sonnenbrillen und Pullover um die
Schultern gelegt. Das Wetter, hatte man ihnen gesagt, sei so
hoch im Norden unberechenbar. Von Morrison’s Dock aus be-
trachtet, wirkte das Schiff so gewaltig, dass die Häuser dah-
inter winzig klein aussahen. Zahllose Fenster reihten sich an-
einander, jedes mit einem eigenen Balkon: eine Stadt auf dem
Wasser. Es war Mittagszeit in Lerwick. Das Sonnenlicht brach
sich in der unbewegten Wasseroberfläche, und der riesige
weiße Schiffskörper erstrahlte so hell, dass man die Augen
zukneifen musste. Auf dem Parkplatz wartete ein ganzes Bus-
geschwader, das die Touristen zu den archäologischen Aus-
grabungsstätten im Süden der Insel bringen sollte. Man fuhr
zu den Klippen am Meer, wo die Seevögel nisteten, um die
Papageientaucher zu fotografieren, und konnte eine Führung
durch die Silberbergwerke machen. Zwischendurch würde
man noch einen Halt für einen typisch shetländischen High
Tea einlegen.
Am Fuß des Landungsstegs wartete ein Straßenkünstler:
ein bewegliches Kunstwerk, ein lebendiges Stück Theater. Es
war ein schlanker Mann im Pierrotkostüm mit einer Clowns-
maske vor dem Gesicht. Ohne ein Wort empfing er die dur-
chreisenden Besucher mit einer Pantomime. Er machte eine
tiefe Verbeugung, eine Hand vor dem Bauch, die andere mit
ausladender Geste zu Boden gestreckt. Die Touristen lächel-
ten.
Sie
waren
offen
für
Unterhaltung.
In
fremden
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Großstädten wurde man ungern angesprochen – schließlich
wimmelte es dort von Bettlern und anderen zwielichtigen
Gestalten, da war es besser wegzuschauen, gar nicht erst den
Blick aufzufangen. Doch hier war man ja auf Shetland, dem
ungefährlichsten Ort, den man sich denken konnte. Man woll-
te ein paar Einheimische kennenlernen. Schließlich musste
man ja irgendwie an Geschichten für die Daheimgebliebenen
kommen.
Der Clown hatte eine Tasche aus rotem Samt bei sich. Sie
war mit Pailletten besetzt, die bei jeder Bewegung glitzerten.
Er hatte sich die Tasche quer umgehängt, wie eine ältere
Frau, die sich vor Taschendieben fürchtet. Nun griff er hinein,
zog einen Schwung bedruckter Zettel heraus und fing an, sie
an die Touristen zu verteilen.
Diese begriffen: Das war irgendeine Werbeaktion. Am Ende
unterschied sich diese Stadt ja doch nicht so sehr von London,
New York oder Chicago. Aber sie ließen sich die Laune nicht
verderben. Schließlich waren sie im Urlaub. Also nahmen sie
die bunt bedruckten Zettel und fingen an zu lesen. Sie hatten
einen freien Abend in Lerwick zur Verfügung – vielleicht gab
es ja eine interessante Veranstaltung, die man besuchen kon-
nte. Irgendetwas an diesem Burschen sprach sie an. Er bra-
chte sie zum Schmunzeln, auch wenn seine Maske ihm etwas
Unheimliches verlieh.
Als sie in die Busse stiegen, sahen sie ihn die schmale
Straße entlang in die Stadt hineingehen. Er verteilte ununter-
brochen weiter seine Handzettel an die Passanten.
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