Atlan - Heft 372 - Odins Erbe.pdf

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Nr. 372
Odins Erbe
Die Vertreibung der Göttersöhne
von Kurt Mahr
Pthor, der Kontinent des Schreckens, hat sich auf Loors, dem Planeten der Bran-
geln, lange genug aufgehalten, um es Atlan zu ermöglichen, Spercos, des Tyrannen
der Galaxis Wolcion, Gewaltherrschaft ein jähes Ende zu setzen und den unterdrück-
ten Völkern die verlorene Freiheit wiederzugeben.
Inzwischen ist Pthor zu neuem Flug durch den Kosmos gestartet. Eingeleitet wurde
der Start durch den »Ruf des Wächters«, der fast alle Lebewesen auf Pthor in tiefen
Schlaf versinken ließ, und durch das Erscheinen des »schwarzen Kontrolleurs«.
Um zu verhindern, daß Pthor wieder der Kontrolle der mysteriösen Beherrscher
der Schwarzen Galaxis anheimfällt, macht sich Atlan, der dank dem Goldenen Vlies
nicht in Tiefschlaf verfallen ist, auf den Weg zur »Seele« von Pthor. Doch es gelingt
Atlan nicht, auf die Steuerung Einfluß zu nehmen. Statt dessen wird der Arkonide auf
die »Dimensionsschleppe«, den Ableger Pthors, verschlagen, der eine kleine Welt für
sich bildet.
Während Atlan sich aus der Dimensionsschleppe den Weg zurück nach Pthor er-
kämpft, bahnen sich dort entscheidende Ereignisse an, die sich vor allem auf die FE-
STUNG konzentrieren.
Nach und nach erwachen die Schläfer, und es kommt zum Kampf um ODINS ER-
BE …
Odins Erbe
Die Hautpersonen des Romans:
Atlan
- Der Arkonide übernimmt Odins Erbe.
Heimdall, Sigurd und Balduur
- Die Odinssöhne erweisen sich als unwürdig.
Thalia
- Sie kämpft gegen ihre Brüder.
Odin
- Ein kleiner Mann hat seinen großen Auftritt.
Razamon und der Stumme
- Zwei Reisende in Atlans Auftrag.
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1.
Das erste, was das wiedererwachende Be-
wußtsein empfand, war Schmerz. Bohrende
Pein, die im Schädel wühlte. Die Art von
Schmerz, die signalisierte, daß es noch viel
schlimmer werden würde, wenn sich die Au-
gen öffneten.
Er lag da, mit geschlossenen Augen, und
dachte über das Geschehene nach. Zuviel
Ungewöhnliches war in der letzten Zeit ge-
schehen, als daß er die Bruchstücke der Er-
innerung im Handumdrehen hätte zusam-
mensetzen können. Fetzen von Gedächtnis-
bildern tummelten sich in seinem Bewußt-
sein, und er hatte seine liebe Mühe, sie zu
sortieren.
Seine Söhne hatten ihn auf Pthor manife-
stiert. Die Manifestation war überraschend
gekommen und dennoch planmäßig abgelau-
fen. Er war als der kleine, alte Mann mate-
rialisiert, der er in Wirklichkeit war, mit
dem Herzen eines Hasen ausgestattet. Die
Materialisierung hatte nicht auf Pthor selbst
stattgefunden, sondern auf einer fremden
Welt, auf der sich der Materiebrocken zu
dieser Zeit aufhielt. Auf der fremden Welt,
die Loors genannt wurde, war er einem
Menschen begegnet, der sich Atlan nannte.
Er hatte sich zu Atlan geschlagen und war
von diesem infolge etlicher unerfreulicher
Ereignisse mit dem Namen »Feigling« be-
legt worden. Gemeinsam hatten sie den
Wölbmantel durchdrungen und waren
schließlich zur FESTUNG gelangt, wo der-
zeit Balduur, Heimdall und Sigurd als Herr-
scher von Pthor fungierten.
Als der kleine alte Mann an diesem Punkt
seiner Überlegungen angekommen war, be-
gann sich seine Erinnerung mit großer Ge-
schwindigkeit zu verdichten. Er war hinzu-
gekommen, als Balduur, Heimdall und Si-
gurd, seine Söhne, im Begriff standen, ihre
Schwester Thalia, seine Tochter, und den
Menschen Atlan hinzurichten. Er hatte sich
den Söhnen als der zu erkennen gegeben,
der er wirklich war: Odin, ihr Vater.
Danach enthielt sein Gedächtnis eine
Sammlung wirrer Eindrücke. Seine Söhne
hatten ihn eine Zeitlang geduldet, dann aber
waren sie über ihn hergefallen, um ihn zu er-
morden. Seine kleine Gestalt und sein Man-
gel an Mut, hatten sie gesagt, sei Schande
auf den Häuptern der Herrscher von Pthor.
Es hatte ein großes Durcheinander stattge-
funden. Odin erinnerte sich an einen Saal,
der von einer Kuppel überdacht wurde. Die
Kuppel hatte an einer Stelle einen großen,
gläsernen Einsatz, durch den Tageslicht von
draußen hereinfiel. In der Mitte der Halle lag
ein Trümmerhaufen: die Überreste der Bar-
rikade, hinter der sich Thalia gegen die Brü-
der verteidigt hatte.
Vor diesem Trümmerhaufen hatten sich
die drei Brüder versammelt, um ihren Vater
zu richten!
Die Erinnerung erfüllte Odin mit einem
Entsetzen, das nicht wesentlich geringer war
als jenes, das er im Augenblick der Tat emp-
funden hatte. Er öffnete unwillkürlich die
Augen. Die Lichtimpulse, die in sein Gehirn
drangen, verdoppelten die Intensität des
Schmerzes. Er blinzelte eine Zeitlang, aber
schließlich war er in der Lage, der Helligkeit
standzuhalten.
Mühselig richtete sich der kleine Mann
auf. Seine Erinnerung war jetzt vollständig.
Es hatte ein pfeifendes Geräusch gegeben,
das Mauern und Wände durchdrang und die
Menschen schwerfällig und müde machte.
Odin erinnerte sich, daß er zuletzt kaum
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noch Kraft gehabt hatte, sich aufzubäumen,
als er die tödliche Klinge auf sich zukom-
men sah. Er war eingeschlafen – in der Ge-
wißheit, daß er aus diesem Schlaf nie mehr
erwachen werde.
Aber den drei Mordlustigen war es ebenso
ergangen. Sie waren nicht mehr dazu ge-
kommen, ihr entsetzliches Vorhaben auszu-
führen. Das Pfeifen hatte auch sie in den
Schlaf versetzt.
Odin horchte sich um. Der Pfeifton war
nicht mehr zu hören. War er aufgewacht,
weil das Pfeifen verstummt war? Das erschi-
en ihm wahrscheinlich. Augenblicklich er-
kannte er, welche Gefahr das für ihn bedeu-
tete. Wenn er erwacht war, dann würden in
Kürze auch Balduur, Sigurd und Heimdall
zu sich kommen! Sollte er sich von neuem
von ihnen greifen lassen?
Das Schicksal meinte es gut mit ihm. Es
hatte ihn Minuten vor seinen Söhnen erwa-
chen lassen. Er mußte diese Chance nützen,
sich in Sicherheit zu bringen!
Er wandte sich zur Flucht. Am einen Ende
des Kuppelsaales führte eine steile Treppe in
die Tiefe. Er eilte dorthin; aber noch hatte er
den Beginn der Treppe nicht erreicht, da
hörte er von seitwärts her ein Geräusch.
Schreckerstarrt blieb er stehen.
Kurt Mahr
aus dem Boden gewachsen, auf der ein glä-
sernes Gebilde stand, das ein Abbild von
VONTHARA war und womöglich noch
schriller als jener pfiff. Das Pfeifen war al-
len durch Mark und Knochen gegangen und
hatte ihnen die Kräfte geraubt. Nacheinander
waren Thalia, Razamon und der Stumme zu-
sammengebrochen. Lediglich Atlan war von
der Wirkung des Pfeifens verschont geblie-
ben – wahrscheinlich, weil er das Goldene
Vlies trug.
Thalia sah sich um. In den Wänden staken
Lampen, die Fackeln nachgebildet waren
und ein ähnlich trübes Licht verbreiteten.
Razamon und der Stumme waren ver-
schwunden. Von Atlan war ebenfalls keine
Spur. Verwundert stellte Thalia fest, daß das
Pfeifen aufgehört hatte.
Der Vater kam ihr wieder in den Sinn.
War es ihm und den Brüdern ebenso ergan-
gen? Waren sie ebenfalls eingeschlafen? Die
Sorge um Odin half Thalia, den bohrenden
Kopfschmerz zu überwinden. Sie eilte die
Rampe hinan. Sie kam in einen Gang, der
auf den Kuppelsaal mündete, in dem sie ge-
gen Sigurd, Heimdall und Balduur gekämpft
hatte und nur wie durch ein Wunder mit dem
Leben davongekommen war.
Durch die Mündung des Ganges sah sie
die drei Brüder mit der Khylda. Von Odin
aber war keine Spur. Thalia trat aus dem
Gang hervor. Da erst gewahrte sie den klei-
nen Mann, der vor der Treppe stand, die zur
Rechten in die Tiefe führte, und sie entsetzt
anstarrte. Sie eilte auf ihn zu.
»Vater …!« stieß sie hervor.
Der Schreck wich aus seinem Gesicht.
Ein Lächeln trat in Odins Miene.
»Honir«, sagte er schwach. »Du bist der
einzige unter meinen Söhnen, der mir die
Treue bewahrt!«
Thalia blitzte ihn an.
»Ich bin Thalia, und so sehr es auch ge-
gen deinen verbohrten Stolz gehen mag: Ich
bin deine Tochter!«
Er hörte nicht auf zu lächeln.
»Ich weiß, Mädchen«, antwortete er. »Mit
der Verbohrtheit hast du recht. Ich muß zeit-
*
Thalias Erwachen war nicht weniger
schmerzvoll als das ihres Vaters. Aber Tha-
lia, die einst auf dem Abschnitt der Straße
der Mächtigen zwischen Zbahn und Orxeya
den Odinssohn Honir verkörpert hatte, fand
es leichter, sich an die jüngst zurückliegen-
den Ereignisse zu erinnern.
Sie wußte, daß sie mit Atlan, Razamon
und dem Fremden, der sich der Stumme
nannte, in die große Pyramide, das Hauptge-
bäude der FESTUNG, geeilt war, um ihren
Vater zu retten, der von seinen eigenen drei
Söhnen umgebracht werden sollte. Kurz zu-
vor hatte der VONTHARA begonnen, ein
infernalisches Pfeifen auszustoßen, und auf
dem Hof der FESTUNG war eine Kuppel
Odins Erbe
weise von Sinnen gewesen sein …«
»Das kommt in dieser Familie öfters
vor!« bemerkte Thalia sarkastisch.
Odin wurde plötzlich ernst.
»Auch da hast du recht«, bekannte er.
»Nur du, meine Tochter, hast stets einen
kühlen Verstand bewahrt.«
Er wandte sich zur Seite und wies auf die
drei Brüder.
»Siehst du, was sie mit mir vorhatten?«
fragte er.
»Ich sehe es. Vergiß nicht, daß Atlan dich
warnte!«
»Atlan! Ja, er hat gewarnt! Ich war ver-
blendet und wollte ihm nicht glauben! Wo
ist er?«
»Ich weiß es nicht. Das Pfeifen konnte
ihm nichts anhaben. Er blieb vor der Müdig-
keit verschont. Er mag überall sein.«
Plötzlich war ein leises Stöhnen zu hören.
Odin zuckte zusammen.
»Was war das?« stieß er ängstlich hervor.
»Heimdall!« antwortete Thalia. »Er
kommt zu sich! Siehst du ihn sich bewegen?
Wir müssen fort von hier!«
Sie griff den Alten bei der Hand und zog
ihn mit sich die Treppe hinab.
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lia ihren Vater versteckte.
Sie eilte über die kahle Hoffläche. Odin
folgte ihr willig. Thalia hielt auf das nörd-
lichste Bauwerk zu. An einer Seitenwand
der kleinen Pyramide machte sie sich zu
schaffen, bis sich eine Öffnung auftat. Drin-
nen flammte ein Licht auf. Odin blickte in
einen kahlen Raum, dessen Hintergrund eine
Tür aufwies.
»Warte hier auf mich!« bat die junge Frau
den Vater. »Hier bist du sicher!«
»Wo … wohin willst du gehen?« stotterte
Odin ängstlich.
»Deine Söhne zur Vernunft bringen!« ant-
wortete sie grimmig. »Ihr Wahnsinn hat ge-
nug Schaden angerichtet. Und wenn sie mir
nicht folgen, dann schlage ich ihnen die
Schädel gegeneinander, bis ihnen Hören und
Sehen vergeht!«
»Laß mich nicht allein!« flehte Odin.
»Du bist hier sicher«, versuchte Thalia,
ihn zu beruhigen. »Niemand außer Atlan
und mir kennt diesen Eingang. Rühr dich
nicht von der Stelle! Denn wenn die Dellos
dich sehen, werden sie den Brüdern davon
erzählen!«
Thalia schlüpfte hinaus und beobachtete,
wie sich der Eingang hinter ihr schloß. Die
Dellos waren noch immer nicht erwacht.
Thalia wandte sich zur Ostflanke der großen
Pyramide. Es fiel ihr auf, daß die graue Kup-
pel, auf der das Abbild des VONTHARA
gestanden hatte, verschwunden war. Sie
mußte wieder im Boden versunken sein,
aber es gab in dem glatten Gußbelag nicht
die winzigste Fuge, die verriet, wo das ge-
schehen war.
Durch einen Seiteneingang erreichte Tha-
lia die Rampe, auf der sie unter der Wirkung
des Pfeiftons zusammengebrochen war. Sie
ging jedoch nicht auf geradem Wege zum
Kuppelsaal, sondern bog am Ende der Ram-
pe in einen Seitengang ein, der über mehrere
Treppen und Absätze zu den Quartieren
führte, in denen ihre Brüder hausten, wenn
sie sich nicht in einer der großen Hallen der
unteren Geschoßebenen aufhielten. Früher
hatte auch sie hier gewohnt, und später, in
*
Thalia und ihr Vater verließen die große
Pyramide durch das nördliche Portal. Drau-
ßen war es düster. Der Himmel wirkte wie
geschmolzenes Blei unmittelbar vor dem Er-
starren. Die Sonne war nirgendwo zu sehen.
Thalia blickte sich um. Die große Pyrami-
de war von einem Sechseck umgeben, des-
sen Eckpunkte von kleineren Bauwerken,
ebenfalls Pyramiden, markiert wurden. Die
Fläche des Sechsecks bestand aus einer kah-
len, glatten Gußmasse, die an ein Gemisch
aus Beton und Metall erinnerte. Jenseits der
kleinen Pyramiden begann der einst paradie-
sische Garten der FESTUNG. Thalia ge-
wahrte die reglosen Gestalten einiger Dellos.
Die Androiden hatten die Wirkung des
Pfeiftons noch nicht überwunden. Das war
gut so. Es sollte niemand erfahren, wo Tha-
Zgłoś jeśli naruszono regulamin