ZEIT Wissen 2015 05.pdf

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ZEIT WISSEN
GEDANKEN LESEN
4 196700 205909
05
NR. 05
August
September 2015
Gnade für
drei Ganoven
Das Weißbrot,
das Ei, der Mann
Die Psychologie
des ersten Schultages
5
5,90 EURO 
Österreich, Benelux, Italien, Spanien, Portugal, Frankreich 6,40 € — Schweiz 10,90 sfr
exklusive
Beiträge von
Seelen-
forschung
Donna Leon, Axel Hacke,
Saša Stanišić, Karen Köhler,
John von Düffel
Mensch
und
HAI
NEUE SERIE: Gestern Science-Fiction, heute Forschung. Teil 1
Gedanken lesen
EINE TECHNIK, DIE ALLES VERÄNDERN WIRD:
DIE LIEBE, DIE POLITIK, DIE JUSTIZ
EDITORIAL
DER HORROR DES PHYSIKERS
Foto
Vera Tammen, Courtesy Maupin Lehmann, New York and Hong Kong, Privat
Neun Uhr morgens, die Vorlesung »Theoretische Physik 1« an der
Technischen Universität München, Semesterbeginn. Der Professor
tritt zum ersten Mal vor seine etwa 200 Studenten. Statt einer
Begrüßung fragt er, verstärkt von einer Lautsprecheranlage: »Hat
jemand von Ihnen gestern Abend den Film
Poltergeist
gesehen?
Er handelt von einem Dämon, der aus dem Fernseher kommt.«
Er macht eine lange Pause und mustert die Gesichter im Saal. Die Studenten, auch ich,
wissen nicht recht, wie sie reagieren sollen, fangen an zu kichern und zu glucksen. Hihi,
ein Geist in der Physikvorlesung.
»Warum lachen Sie?«, fragt der Professor.
»Weil es keinen Poltergeist gibt!«, ruft eine Studentin.
»Sind Sie sicher?«
Der Professor war berühmt damals, ein Nobelpreisträger, sein Name: Rudolf Mößbauer.
Als er fortfuhr, wurde es plötzlich sehr still im Saal, und das blieb es auch. »Ich habe eine
Bitte an Sie«, sagte er. »Wenn Wissenschaftler etwas nicht erklären können, dann machen
sie sich gern lustig. Das ist dumm und ignorant. Meine Bitte: Tun Sie das nicht. Wie oft
mussten gerade wir Physiker aufgrund neuer Erkenntnisse unser Weltbild umwerfen.«
Liebe Leserin und lieber Leser, in unserer neuen Serie »Gestern Science-Fiction, heute
Forschung« unternehmen wir eine Expedition zu den Grenzen der Erkenntnis. Die
Themen sind: Gedanken lesen, unsichtbar werden, vom Tod zurückkommen. Und wenn
Sie jetzt sagen: Das gibt es nicht, dann frage ich Sie: Sind Sie sicher?
Andreas Lebert,
Chefredakteur
AUS DER REDAKTION
Niels Boeing,
ZEIT Wissen-Autor, ist begeistert von
der technischen Eleganz und Einfachheit von Fahr-
rädern und hat schon selbst ein Lastenrad zusam-
mengeschraubt. Wie das Prinzip dieses »phänomena-
len Fortbewegungsmittels« Verkehr und Maschinen
der Zukunft prägen könnte, schreibt er auf Seite 78
Titelfoto
Jens Boldt für ZEIT Wissen
Alex Prager
hat ihre Fotokunst unter anderem schon
im Museum of Modern Art in New York ausgestellt.
Sie ist fasziniert von Menschenmengen und der Iso-
lation des Einzelnen in der Masse. Die aufwendig
inszenierten Bilder ihrer Serie »Face in the Crowd«
illustrieren unsere Titelgeschichte (ab S. 20 und S. 45)
INHALT
GESUNDHEIT &
PSYCHOLOGIE
FORSCHUNG &
TECHNIK
UMWELT &
GESELLSCHAFT
Begnadigt
Weißbrot ist gar nicht so böse  S. 47
Miles and more
Der Weg des Niki Lauda  S. 36
Belichtet
Die Farbe der Erinnerung  S. 88
6
Am Anfang drei Fragen
36
Verändert Hierarchie den Charakter?
Warum träumen wir oft
unmögliche Dinge? Wie mobilisiert
man seine letzten Reserven?
34
Das Experiment
DAS ZEIT WISSEN-GESPRÄCH
Keine Angst vorm Fliegen
12
Der Optimist
Der ehemalige Formel-1-Rennfahrer
Niki Lauda spricht über sein Vertrauen
in Technik und die Einsamkeit auf
der letzten Meile
44
Das gute Bild
Die Böden weltweit sind ausgelaugt
und überdüngt. Warum es trotzdem
Hoffnung gibt, sagt Urs Niggli
18
Geordnete Verhältnisse
Diesmal: Das Universum bestechen
47
DOSSIER: Gnade für drei Ganoven
Über linksfüßige Torschützen
und rechtsdrehende Planeten
62
Hai, mein Freund
Neues aus der Welt der Fotografie
Das Weißbrot (Gluten),
das Ei (Cholesterin),
der Mann (Testosteron):
Wie gefährlich sind sie wirklich?
54
Innenminister und Außenminister
78
Die Räderrepublik
Radfahren ist wieder in.
Doch das Fahrradprinzip ist
noch lange nicht ausgereizt
80
Aufbruch mit Akku
88
Die Raubfische gelten als Inbegriff
des Bösen. Dabei sagt die Furcht
vor dem Hai vor allem etwas über den
Menschen und seine Hybris aus
Erinnerung in Sepia
Wie Zwillinge miteinander leben,
wenn einer von beiden mit dem
Down-Syndrom geboren wurde
70
Psychologie des ersten Schultages
86
Deutschlands Autos sollen eines
Tages mit Strom fahren. Utopisch?
Die Bilanz der ersten Etappe
Arbeitsunterlage
Wie der Fotokünstler Elger Esser
seine Sehnsucht in Farbe fasst. Und
was das Licht über die Welt verrät
102 On_Off
Wissenschaftler und Schriftsteller über
den ersten großen Übergang im Leben
Diesmal: Geschlechterklischees
unter Jugendlichen
Was bedeutet Nähe in den Zeiten
des Smartphones?
Fotos
Phipps / Sutton Images / Corbis; Elger Esser / VG Bild-Kunst, Bonn 2015 & Courtesy Kewenig Gallery, Berlin
Illustration
La Scarletta
RUBRIKEN
3
14
16
98
103
104
104
106
Editorial
U-Acht
Ü-Achtzig
Bücher
Apps
Die beste Erklärung
Impressum
Die Welt aus der Sicht …
Foto
Alex Prager / Edition of 6 Courtesy the artist and Lehmann Maupin, New York and Hong Kong
UNSERE
RECHERCHE-
QUELLEN
Studien, Bücher, Artikel,
Dokumente – die Recherche-
quellen, die wir für unsere
journalistische Arbeit genutzt
haben, finden Sie online unter
www.zeit-wissen.de/0515quellen
zu diesen Texten:
TITEL
In den Köpfen
der anderen
20
Wissenschaftler versuchen, Gedanken zu lesen
In den Köpfen
der anderen
Dossier: Gnade
für drei Ganoven
Hai, mein Freund
Psychologie des
ersten Schultages
Die Räderrepublik
Aufbruch mit Akku
Was wäre, wenn wir anderen Menschen in den Kopf sehen
könnten? Dem Angeklagten vor Gericht. Dem Partner beim
Sex. Wladimir Putin beim Friedensgipfel. Lange Zeit waren dies
Fantasien aus der Science-Fiction, inzwischen arbeiten seriöse
Forscher daran. Aus den Mustern der Hirnaktivität können sie
immer mehr Geistesinhalte entschlüsseln. Wem wird das am
Ende nutzen? Und wo sind die Grenzen der Neurotechnologie?
AM ANFANG DREI FRAGEN
1. Verändert Hierarchie
den Charakter?
Führungstypen unterscheiden sich von anderen
Menschen. Ist dieser Unterschied
Voraussetzung oder Folge ihres Aufstiegs?
Text
Ulrike Meyer-Timpe
Foto
Peter Lippmann
W
ie er sich aufplustert! Was für ein
eitler Gockel, welch ein Wichtig-
tuer! Dabei spielte er früher mal den
netten Kerl. Wenn ein Kollege Un-
terstützung brauchte, stand er be-
reit; beim Feierabendbier gab er sich
unterhaltsam. Bis zu jenem Tag vor drei Jahren, als er
das Fußvolk hinter sich ließ und zum Abteilungsleiter
aufstieg: Aus dem guten Kumpel wurde der Chef. Hat
die Karriere seinen Charakter verdorben? Oder zeigt
sich jetzt, was immer schon in ihm steckte, er aber ge-
schickt verborgen hielt?
Diesen Fragen ist Jule Specht in der ersten syste-
matischen Längsschnittstudie zu dem Thema nachge-
gangen. Sie ist Professorin für Persönlichkeitspsycho-
logie an der Freien Universität Berlin und hat die Daten
ausgewertet, die das Deutsche Institut für Wirtschafts-
forschung (DIW) regelmäßig für das Sozio-oekonomi-
sche Panel erheben lässt. Dabei werden seit mehr als
dreißig Jahren 30 000 Menschen detailliert zu ihren
Lebensumständen und ihrem Umgang damit befragt.
Weil über einen langen Zeitraum hinweg immer wieder
dieselben Menschen interviewt werden, ergibt sich ein
umfassendes Bild ihrer Entwicklung.
»Ich hatte angenommen, dass sich die Menschen
deutlich verändern, wenn sie Führungsverantwortung
übernehmen«, sagt Jule Specht. Denn aus anderen
Untersuchungen wisse man, dass einschneidende Ereig-
nisse im Berufsleben – etwa der Einstieg in den ersten
Job oder der Beginn der Rente – tiefe Spuren in der
Persönlichkeit hinterlassen.
Doch ihre noch unveröffentlichte Studie kommt
zu dem Schluss: Die Beförderung in eine Führungs-
position verändert die Menschen nicht. »Wir wissen aus
der ökonomischen Forschung, dass sich Führungs-
persönlichkeiten stark von anderen Menschen unter-
scheiden«, sagt Specht. Aber dieser Unterschied ist
Voraussetzung, nicht Folge des Aufstiegs. Von den
30 000 Befragten, die 2005 und dann wieder 2009
interviewt wurden, hatten 155 in der Zwischenzeit eine
Führungsrolle übernommen. Diese Personen waren vor
allem offener für neue Erfahrungen, außerdem emo-
tional stabiler und extrovertierter als der Durchschnitt.
Bei den ebenfalls rund 150 Menschen, die zwischen
2009 und 2013 aufstiegen, zeigte sich dasselbe Bild:
Auch bei ihnen waren diese Persönlichkeitsmerkmale
besonders ausgeprägt, und sie besaßen sie schon vor
dem Karrieresprung.
Jule Specht verweist aber auch auf Studien mit
Berufseinsteigern oder Rentnern und sagt: »Die Per-
sönlichkeit kann sich an neue Herausforderungen an-
passen.« Das bescheidene Huhn würde sich also über
kurz oder lang auch aufplustern, wenn es die entspre-
chende Position erhielte – und erschiene dem Umfeld
womöglich als »Wichtigtuer«. Es würde sich verändern.
Vielleicht wäre es aber auch ganz anders: Womöglich
würden die früheren Kollegen es einfach nur mit ande-
ren Augen sehen, weil sie ihm schlicht den Aufstieg
neiden, keine Kritik von ihm vertragen – oder weil sie
ein gemeinsames Feindbild brauchen.
Gerade wenn der Chef aus dem bisherigen Team
aufgestiegen ist, wird er von den anderen genau be-
obachtet. Ist er noch kollegial, oder spielt er sich auf?
»Das, was die Mitarbeitenden als Veränderung der
Persönlichkeit empfinden, ist meist nur das Ausfüllen
einer anderen Rolle«, meint Annette Hillebrand; als
Coach begleitet die Hamburgerin Führungskräfte aus
der Medienbranche. Sie sagt: »Der ehemalige Kollege
hat sich ein neues Gewand übergezogen – und doch ist
der Mensch darunter derselbe geblieben.
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